GY Gedenkreden am Volkstrauertag

Bei den Gedenkfeiern zum Volkstrauertag haben vier Schüler*innen unserer Kursstufe 1 selbstverfasste Gedenkreden auf dem Hauptfriedhof und dem Friedhof in der Weststadt gehalten. Es sind zwei tiefgreifende und bewegende Texte entstanden, die es sich zu lesen lohnt. Sie finden diese Texte unten. Vielen Dank an Sara Seinbinder, Carina Schan, Maximilian Riedter und Finn Spaude.

Friedhof Weststadt: Maximilian, Finn

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind Max und Finn, 2 Schüler der 11. Klasse vom Gymnasium St. Konrad. Unsere Aufgabe ist es, eine Rede darüber zu schreiben, warum wir und Sie alle heute hier sind. Warum sind Sie denn hier? Warum sind wir heute hier? Tagtäglich, ja mehrmals am Tag, werden wir von unserem Umfeld an all das Leid in dieser Welt erinnert. Abends bei der Tagesschau bekommen wir Aufnahmen überall aus der Welt präsentiert. Seit einem halben Jahr ist der Ukrainekrieg Standardthema beim abendlichen Fernseh – schauen. Wir sehen Videos, die wir auf unseren Flachbildfernsehern mit mehr als 8 Millionen Pixeln detailgetreu analysieren können. Videos mit Menschenrechtswidrigen Inhalten. Videos mit Bombenangriffen, die Menschenmassen und jahrelang errichtete Infrastruktur zerstören. 200 000 ukrainische Soldaten sind es an der Zahl. Netflixdokus, die eigentlich genau den gleichen Schrecken präsentieren, nur, dass die Aufnahmen 80 Jahre alt sind. 1. Und 2. Weltkriegsdokumentationen. Aufnahmen neu aufgelegt, damit wir uns beim Flug nach Malta bequem die Zeit vertreiben können. 9 Millionen Soldaten starben im ersten Weltkrieg in den Schützengräben. Weitere 6 Millionen Zivilisten fanden ebenfalls den Tod. Mit 60 Millionen getöteten Menschen im 2. Weltkrieg, vervierfacht sich die Menge der Menschen, denen wir heute gedenken. 60 Millionen Menschen, das sind ¾ von Gesamt Deutschland, stand heute. TikTok oder Instagram sind Apps, die wir jugendlichen täglich viele Minuten oder gar Stunden nutzen. Gerade auf TikTok, das kann jeder unter 20-jährige hier bestätigen, wurden am Anfang des Ukrainekrieges Live Videos von Ukrainischen Soldaten übertragen, in denen Menschen LIVE getötet werden. Wie reagieren wir darauf? Mit der Bewegung, von der alle jugendlichen am Wochenende Muskelkater haben. Wir scrollen weiter zu Inhalten, die uns befriedigen, dass doch alles gut sei. Videos vom Weltmeister im Burger essen, ein Tutorial zum perfekten Frühstücksei. Unser Handy erinnert uns alle 2 Minuten daran, nachzusehen, was neues hochgeladen wurde. Wir bekommen keinen Abstand. Wir alle, Sie und ich, haben uns eine Blase, eine Scheinwelt aufgebaut, in der wir leben. Eine falsche Realität, die uns glücklich macht. Angenommen, ich würde jeden Ukraine Krieg Livestream so ernst nehmen, wie wenn ich in dieser Situation wäre. Ich wäre heute nicht hier. Ich würde heulend, traumatisiert und mit Depressionen in einer Psychiatrie sitzen. Der Grund, warum wir aber ganz normal lachend weiterleben ist nicht, dass die Farben unserer Bildschirme, die Auflösung, die Audioqualität, der Schnitt zu schlecht ist, dass es uns nicht mehr berührt. Es ist unsere eigene Schutzblase in der wir leben und uns abschotten. Wir müssen das tun, uns müssen die Dinge egal sein, damit wir unseren Alltag normal weiterleben können. Allerdings auch ein Alltag, in dem Leid, Tod und deren Ignoranz das neue „Normal“ sind.

Finn Spaude

Doch genau dieses Konstrukt, herbeigeführt durch den eigenen Schutzmechanismus, kann und wird einer Gesellschaft zum Verhängnis werden. So schützen wir uns selbst zwar und verkriechen uns in unseren normalen, ruhigen Alltag, der so viel Ablenkung bietet – doch zu welchem Preis?

Bleibt hier nicht auch in einem gewissen Maße die Menschlichkeit zurück und reduzieren wir nicht alles Leid der Welt auf eine Zeitspanne von vielleicht 15 Minuten am Tag, von der wir, ohne Nachzudenken, in unser geregeltes Leben übergehen?

Denn kaum sind die Bilder der Gräueltaten auf unseren Bildschirmen verblast, schwinden Emotionen wie Trauer oder Wut und gehen wieder in einen, fast schon beängstigenden, Rationalismus über, mit dem wir über das Gesehene urteilen – von Menschlichkeit fehlt hierbei jede Spur.

So werden zum Beispiel politische Debatten über Kriege aus unserer emotionslosen Scheinwelt heraus geführt, bei denen Opfer im besten Fall auf Zahlenwerte degradiert und gegen ökonomische Größen abgewogen werden. Das wirkliche Leid dort lässt uns allerdings kalt und wir sind nicht in der Lage, wirklich bestmöglich für die Betroffenen zu Handeln.

Doch dies ist sogar noch als eine positive Ausganslage anzusehen. Viele humanitäre und militärische Krisen bekommen nicht einmal mehr diese Aufmerksamkeit. Wir sind abgestumpft und nehmen diese gar nicht mehr wirklich war – sie sind schon fast alltäglich geworden. So gab es 2021 etwa 22, teilweise immer noch andauernde, Kriege, doch könnte auch nur eine Person hier mehr als 10 davon aufzählen? Ich nämlich nicht.

Zur Verdeutlichung habe ich hier einen Luftballon. Er ist gefüllt mit Schnipseln, die für uns und unsere Meinungen zu Dingen stehen, die Außerhalb dieser geschützten Blase ablaufen und uns eigentlich zutiefst erschüttern oder an unsere Solidarität appellieren sollten. Doch Emotionen, die dies bewirken könnten, prallen ohne Ausnahme an dieser Schutzschicht ab.

Doch um wirklich helfen zu können müssen wir diese Scheinwelt, die uns selbst so viel erspart, fallen lassen und die Blase zum Platzen bringen.

(Luftballon platzen lassen)

Wir müssen wie die Schnipsel auf den Boden der Tatsachen zurückkehren und lernen, das Leid von außen zuzulassen und nicht unsere Augen vor ihm zu verschließen. Besonders hier und besonders heute an einem Platz und einem Tag, die uns sowohl das Erinnern als auch das Handeln für Opfer von Gewalttaten näherbringen, fast schon vorschreiben.

Und deshalb hoffe ich, dass sich jeder heute dieser Aufgabe bewusst ist und versucht, sein bestmögliches beizutragen.

Maximilian Riedter

Hauptfriedhof: Sara, Carina

Sehr geehrte Damen und Herren,

Dieser Ballon, den sie hier sehen, steht für unser Leben und die Sachen, die für unser Leben wichtig sind.

Leben wir nicht zunehmend alle in so einer Blase/einem Ballon, in dem wir so mit uns selbst beschäftigt sind, dass wir zunehmend weniger wahrnehmen, was um uns herum passiert? Und auch wenn wir wahrnehmen, was außerhalb unserer Blase geschieht, ist es uns häufig egal. Durch Social Media, wie z.B Tiktok, wo man in einem Live-Video einen Bombenanschlag, oder wie Menschen erschossen werden, sieht, sind wir so auf Gewalt abgestumpft, dass uns diese reale Gewalt, die Realität für so viele Menschen in der Welt ist, trotzdem so weit weg, so außerhalb unserer Blase vorkommt, dass wir dem gegenüber gleichgültig sind. Wir müssen also unsere Blase platzen lassen, um der Realität ins Auge schauen zu können und handeln zu können. Wir müssen sie platzen lassen, um etwas zu verändern, damit wir nicht nur gleichgültig am Rand stehen und zuschauen.

Wenn wir diese Blase platzen lassen, nehmen wir endlich die Menschen wahr, die gewaltsam durch Krieg und Gewalt zu Tode gekommen sind. Wir nehmen aktiv wahr, dass rund 200.000 Soldatinnen und Soldaten und 40.000 Zivilisten in der Ukraine seit Februar getötet oder verwundet wurden. Wir nehmen wahr wie viele Menschen auch in den früheren Kriegen, im ersten Weltkrieg mindestens 9 Millionen Soldaten und 6 Millionen Zivilisten, und im Zweiten Weltkrieg mehr als 60 Millionen Menschen durch direkte Kriegsfolgen ermordet wurden. Wie viele Opfer kommen noch durch die rund 350 weiteren, kleinere und größeren Kriegen und Konflikten, von denen wir nur wenige, wie der Bürgerkrieg in Syrien oder der Krieg in Afghanistan kennen, ums Leben? Wie viele Menschen werden von ihrer Regierung unterdrückt, verfolgt, gequält und getötet? Dazu gibt es auch noch viele Opfer, die zwar nicht tot, aber schwer traumatisiert sind. Viele Überlebenden haben ihr Leben lang mit Traumata, Depressionen, Angststörungen und/oder posttraumatische Belastungsstörungen zu kämpfen. Wir sehen nun auch die Hinterbliebenen der Opfer, die Mütter, Väter, Geschwister, Partner, Kinder und Freunde, die um ihre Angehörigen trauern. Wir sehen außerdem auch die Menschen, die sich geweigert haben, auf andere zu schießen und deshalb selbst ihrer Freiheit beraubt, gequält oder getötet wurden. Durch das Platzen unserer Blase können wir erst diesen Opfern gedenken und aufrecht um sie trauern.

Wir sehen nun auch die Geschichte und können Fakten wahrnehmen.

Im Kurs haben wir uns gefragt, ob wir Menschen überhaupt aus der Geschichte lernen (können). Das scheint uns nämlich gar nicht so leicht, weil Geschichte sich nicht einfach wiederholt. Um aus der Geschichte zu lernen, müssen wir alles um uns herum wahrnehmen, die Gegenwart und die Vergangenheit. Früher in der NS-Zeit wurde dieser Volkstrauertag nicht als Volkstrauertag sondern als Heldengedenktag gefeiert. Sie feierten die Helden, die für ihr Regime gearbeitet und gestorben waren. Doch das sind keine Helden. Das waren keine Helden, die da elendig in den Schützengräbern starben und ebenso sind das keine Helden, die nun von der russischen Armee oder anderen Regimen an die Front gebracht werden. Wir müssen wahrnehmen, dass diese früher als Helden gefeierte Menschen auch Mittäter waren. Wir müssen wahrnehmen, dass es in einem Krieg nur Mittäter und Opfer gibt. Auch wenn es für die Opfer auch mal legitim sein kann, sich mit Gewalt zu wehren, braucht es trotzdem diplomatische Schritte, Kommunikation um etwas wahrhaftig zu lösen. Doch um dies Wahrzunehmen müssen wir unsere Blase platzen lassen. Wir müssen alles um uns herum wahrnehmen, das Leid aber auch die Hoffnung und zusammen zu einer Lösung und somit zu einer Versöhnung kommen.

„Versöhnung über den Gräbern“: Unter diesem Motto führt der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge Jugendbegegnungen durch. Dazu müssen diese Bereit sein, den Komfort ihrer Blasen zu Verlassen und der Realität ins Auge zu schauen.

Ja wir sind überzeugt: erst wenn wir alle unsere Blasen zum Platzen bringen, können wir aus der Vergangenheit und der Gegenwart lernen, und die Zukunft so gestalten, wie wir es uns wünschen. Dann werden wir auch lernen, dass dieser aufrechte Frieden und Gerechtigkeit nur entstehen kann, wenn wir uns ungeschminkt an die Gräuel erinnern und um die Opfer trauern, aber trotzdem die Hoffnung, und die Sehnsucht an eine bessere Welt nie verlieren.

 

Carina Schan und Sara Steinbinder

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